Bericht zur Lesung: Die Kastanien von Charkiw

Bild: Birte Fritsch

Der Krieg Putins hat ein Ziel: Die Ukraine als selbstständiges Land, die ukrainische Kultur, Demokratie und Staatlichkeit zu zerstören. Wir dürfen und werden das nicht zulassen. Ein literarisches Denkmal für die unter Beschuss und Belagerung stehenden Stadt Charkiw durfte ich mit dem Autor Michael Zeller persönlich und literarisch diskutieren. Im Vordergrund: Diese beeindruckende, wunderschöne Stadt und ihre Menschen. Denn in den diesen Zeiten geht genau um sie: Alle, die nun um ihre Heimat kämpfen und in Europa Schutz suchen. Sie gehören in den Mittelpunkt. Geehrt hat mich und uns, dass Iryna Shtern vom deutsch-ukrainischen Verein Lerche, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite, zum Ende des Abends das Wort ergriffen hat. Ihr und ihren Worten möchte ich deshalb den Bericht zum Abend überlassen. Danke und meine größte Hochachtung, liebe Iryna!

„10.03.2022, Wuppertaler Stadtbibliothek. Leute mit FFP-Masken kommen rein, zeigen Tickets und Impfungen vor und gehen hoch in den 3. Stock. In der Lobby werden Bücher verkauft. Michael Zellers „Die Kastanien von Charkiw“. Ich kaufe ein Buch und mache ein Foto von einer in Charkiw veröffentlichten ukrainischen Übersetzung, weil sie unverkäuflich ist. Neben ihm steht der Autor, ein älterer Herr mit zwei Wäscheklammern am Revers seines Anzugs, blau und gelb – unsere Flagge. Ich grüße ihn, ich sage, dass ich aus Charkiw komme, ich lebe hier seit 18 Jahren und eine Freundin, mit der ich an der Universität studiert habe, ist vor einer Woche angekommen.

Er spricht weder Ukrainisch noch Russisch und sagt auf Deutsch: „Die Universität wurde auch bombardiert. Gosprom (ein großes Haus an der Uni – I.S.) aber nicht, oder?“ Ich sehe, wie er anfängt zu weinen, und er geht zwei Schritte zurück. Nachdem er sich beruhigt hat, kehrt er zu uns zurück und sagt: „Es besteht kein Zweifel, dass die Ukraine gewinnen wird. Aber es ist nicht bekannt, wie lange es dauern wird…“

Ich bekomme mein Autogramm und wir gehen in den Saal. Es gibt ungefähr 40 Zuhörer. Durch die Corona-Vorschriften ist es nicht mehr möglich. Dies ist die erste Veranstaltung in der Bibliothek seit der Pandemie. Sie wurde vor ein paar Monaten geplant, und niemand wusste, dass es während des Krieges stattfinden würde.

Der Onkel des Autors starb in der Nähe von Donezk und Michael Zeller reiste 2019 in die Ukraine, um diesen Ort zu besuchen. Aber er selbst hat mal in Nürnberg gelebt, unsere Partnerstadt, also war er oft in Charkow. Dieses Buch ist über Reisen 2019.

Er las drei Kapitel: über die Avenue of Science und den Platz am 23. August, über das Konzert des Kosakenchors in der Philharmonie und über die Reise auf die Höhe von 159,1, wo sein Onkel starb.

An der Lesung nahm der Bundestagsabgeordnete Helge Lindh teil, der den Krieg in der Ukraine sehr empathisch miterlebt, sogar dass er an die Grenze medizinische Kräfte gebracht hat und von da die Flüchtlinge. Daher war die Diskussion über die aktuelle Situation zäh: dass Europa und Deutschland konkret die Drohung aus Russland nicht ernst genommen haben, dass niemand bis zum letzten Moment an die Möglichkeit einer Dritten Weltkrieg geglaubt hat…
Ich bat am Ende um Wort, um allen zu danken: dem Autor für die Erinnerungen an meine Stadt, in der ich während seiner Lektüre wieder zu sein schien, den Anwesenden für das Interesse, allen Deutschen für die Solidarität. Denn ich hätte nie gedacht, dass die Menschen so reagieren würden: in ihren Wohnungen wohnen lassen, Geld spenden, Essen und Kleidung verteilen, nachts nicht schlafen, medizinische Versorgung organisieren… Das von Putin verfolgte Ziel ist nicht erreicht: Die Ukraine war noch nie so nah an Europa wie jetzt. Und so wird es ab jetzt immer sein!“

Bild: Birte Fritsch