Mein Kommentar zum Sondierungspapier von SPD, CDU und CSU

Die SPD steht vor einer fraglos schwierigen, wahrscheinlich existentiellen Entscheidung. Der große Ernst, zuletzt der Delegiertenversammlungen NRW gestern und vorgestern, beweist das. Wir haben es uns nie so leicht gemacht wie andere Parteien. Derartiges Ringen aber zeichnet bei aller damit verbundenen Angreifbarkeit diese Partei gerade aus. Die SPD muss die unterschiedlichen Einschätzungen als pluralistische Partei aushalten und mit wechselseitigem Respekt austragen.

Aber sie muss letztlich auch eine Entscheidung fällen und diesen Weg dann gemeinsam einschlagen. Wir sind nämlich eine Gesinnungsgemeinschaft und eine Verantwortungsgemeinschaft. Alles drei: Gesinnung, Verantwortung und – mindestens so wichtig – Gemeinschaft. Gesinnung: o ja. Verantwortung: unbedingt. Denn ich mache, ich lebe Politik, um Lebensgeschichten konkret besser und anders schreiben zu dürfen. Und das heißt: in Verantwortung zu gehen und das heißt im Zweifelsfall auch in den Schmerz. Denn das Leben ist nicht rein und idyllisch.

Aber vor allem auch Gemeinschaft: Verstehen wir es nicht? Erst daraus wächst unsere besondere Stärke.

Ich gebe umumwunden zu, dass ich an einzelnen Stellen der Sondierung noch mehr erhofft, erwartet und einen noch mutigeren, radikaleren Bruch mit dem Bisher gewünscht hätte. Es ist geboten, deutlich und ohne Verklärung zu sprechen. Viel Licht, aber auch mancher Schatten sind vorhanden. Der Wunsch nach Korrekturen, Nachverbesserungen, Konkretisierungen ist unüberhörbar.

Für solche Präzisierungen sind Koalitionsverhandlungen da.

Abschließend entscheiden dann die Mitglieder als unser Souverän. Daher halte ich nach allen Abwägungen auf Grundlage des Verhandlungsergebnisses aus den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen für verantwortbar und angemessen.

Ich möchte und muss wenigstens in Ansätzen hier auch begründen, warum.

Verantwortung, Gesinnung und Gemeinschaft, dieser Dreiklang, der geschichtlich die Sozialdemokratie ausmacht und mit dem wir uns aktuell schwertun, heißt zugleich, die tatsächliche Alternative in diesem Moment klar zu benennen:

Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen.

Eine Regierungskoalition unter Beteiligung der SPD ist im Angesicht der erzielten Ergebnisse und in der aktuellen Situation für Deutschland und Europa besser und menschlicher als eine Regierung ohne jede sozialdemokratische Triebfeder. Eine paritätische Finanzierung der Krankenversicherung, den Weg hin zu gebührenfreien Kitas,  Solidarrente bzw. Grundrente, ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent und gedeckelte Rentenversicherungsbeiträge bis 2025, mehr Personal, Qualitätsstandards und bessere Bezahlung in der Pflege, Rückkehrrecht in Vollzeit – all diese Vorhaben hat die SPD in den Sondierungsgesprächen hartnäckig ausgehandelt, und all diese politischen Projekte werden ohne eine Regierungsbeteiligung der SPD nicht realisiert. Dieser Ergebnisse müssen wir uns gewiss nicht schämen, sie sind Grund für gesundes Selbstbewusstsein.

Ganz besonders freue ich mich über das wirklich außerordentliche Verhandlungsergebnis hinsichtlich der Maßnahmen zur Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Es wird ein neues Regelinstrument im SGB II „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ geschaffen und in den Ländern der Passiv-Aktiv-Transfer ermöglicht. Dafür wird der Eingliederungstitel um eine Mrd. Euro jährlich aufgestockt. Diese Maßnahmen sind endlich der Startschuss für einen sozialen Arbeitsmarkt in Deutschland. Es ist das größte Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit, das in diesem Land je aufgelegt wurde. Gerade Regionen wie das Bergische Städtedreieck zwischen Wuppertal, Solingen und Remscheid, die stark von wirtschaftlichen Strukturwandel und Armut betroffen sind, werden davon profitieren. Wir werden bei unserer außergewöhnlich hohen Unterbeschäftigungsquo te bei gleichzeitig schlägkräftiger Infrastruktur zugunsten der Schaffung von Teilhabe vielen langzeitarbeitslosen Menschen wieder eine Perspektive und  gesellschaftliche Inklusion bieten können. Auf diese Weise werden wir auch aktiv das Zusammenwachsen unser Gesellschaft fördern und der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken. Die Behauptung, der erste Arbeitsmarkt sei allein die Lösung, ist eine Lebenslüge, der die Wirklichkeit leider spottet. Allein deshalb lohnt es sich aus meiner Sicht, nicht vorschnell eine Regierungsbeteiligung der SPD abzulehnen und der Aufnahme von  Koalitionsverhandlungen eine Chance zu geben.

Der Kompromiss zum Familennachzug stellt eine merkliche Verbesserung gegenüber einer schieren Fortschreibung der Aussetzung dar. Eine Freigabe bei subsidiär Schutzberechtigten oder zumindest ein Kontingent von 2000 monatlich wären jedoch ungleich erfreulicher im Sinne der Betroffenen und der Integrationspolitik. Härtefallregelungen müss en zwingend die entstandenen besonderen Härten in einer Vielzahl von Fällen, die nicht Fälle, aber Menschenschicksale sind und die ich auch selber täglich schon seit Jahren begleite, auffangen.

Reden wir Klartext. Es gibt massive Vorbehalte gegen eine neue Große Koalition, deutlich unterschiedliche Positionen prallen in der Bewertung sichtbar aufeinander.

Aber bitte lassen wir nicht, egal wie wir urteilen, taktische Erwägungen dominieren und stellen wir am Leben der Menschen ausgerichtete, inhaltliche und wertgebundene Fragen in den Mittelpunkt.

Eine mögliche Große Koalition wird nur dann eine Existenzberechtigung haben, wenn sie einen anderen Politikstil wagt, Differenzen zulässt und sich viel mehr als in der Vergangenheit in die Gesellschaft öffnet.

Das wird für das Überleben der Parteiendemokratie maßgeblich sein. Und das liegt erst einmal nicht an irgendwem, sondern an uns selbst.

Am Ende geht es nicht nur und primär um uns selbst, sondern um andere , denen wir auf ihre Lebenslage und -frage Antwort zu geben haben. Wie auch immer wir entscheiden, vergessen wir das nicht.

Die AfD ruft mit triumphierendem Gestus nach  Neuwahlen, das hat seinen Grund und mahnt dazu, nicht leichtfertig mit diesem Instrument umzugehen.

Die Sozialdemokratie, für die ich stehe und einzustehen habe, war  letzten Endes stets von Mut getragen und nicht von Angst getrieben.

Vom Mut, die Unsicherheiten und Ängste der Menschen dieses Landes, deren Stimmen wir hörbar machen und die wir nicht im Stich lassen können und wollen, nicht einfach hinzunehmen, sondern durch Hinwendung und Handeln aufzufangen.

Letztlich werden nie Papiere und immer nur Menschen begeistern können. Auf uns persönlich kommt es an.

Kein Schriftsatz, keine Strategie, keine Form der Regierung oder Nicht-Regierung wird uns diese Aufgabe abnehmen.